Ursula, Du hast Dich erst mit 50 selbstständig gemacht. Das war vor 20 Jahren noch ungewöhnlicher als es das heute ist. Was waren die Hintergründe, in was für einer Lebenssituation warst Du damals?
Ich war lange Jahre Forschungsangestellte an der Hochschule. Danach habe ich mich bewusst für eine Familienphase entschieden: Mit 32 Jahren das erste Kind bekommen, mit 38 das dritte. Irgendwann fing ich an, nebenher Kurse zu geben, und als sich abzeichnete, dass ich mich von meinem Mann trennen würde, stellte sich die Frage: Womit verdienst Du Dein Geld? Alle Kinder wollten mit zu mir. Ich stand auf dem Sprungbrett, ohne zu wissen, ob unter mir Wasser sein würde. Ein Jahr lang habe ich Akquise gemacht, telefoniert, Briefe geschrieben, ehe ich das Gefühl hatte: Jetzt kannst Du springen. Einfach war das nicht, ich musste richtig buckeln. Aber es war meine Entscheidung. Und ich hatte keinen Chef.
Wie hat Dein Umfeld reagiert? Hast Du eher gehört, das sei zu riskant, oder hat man Dich ermuntert?
Eher das erstere. Meine Eltern lebten damals nicht mehr, die hätten mich sicher gewarnt. Und nicht alle aus meinem Umfeld konnten nachvollziehen, wie das Leben als Selbstständige ist. Ich hatte anfangs auch echte Probleme, Räume zu finden. Eine geschiedene Frau mit drei Kindern, das alleine war schon schwer, und noch dazu konnten sich vor 20 Jahren nur wenige vorstellen, was ein Coach so macht. Ein Vermieter fragt mich, ob ich bei meiner Arbeit auch Herrenbesuch hätte und die Räume sehr abgenutzt würden. (lacht) Die Wohnung habe ich nicht gekriegt.
Zumindest so etwas erleben Gründerinnen nicht mehr.
Nein, das nicht. Früher war man die Rabenmutter, heute wird man als Hausmütterchen abgestempelt, wenn man als Frau nach einer Geburt nicht ganz schnell wieder zum Haushaltseinkommen beiträgt. Ich sehe das mit gemischten Gefühlen. Ich habe mich immer dafür eingesetzt, dass Frauen das, was sie machen wollen, machen können, aber ich finde es furchtbar, auf welchen Druck das hinausläuft. Ich möchte die fünf Jahre zuhause mit meinen Kindern überhaupt nicht missen. Ich wünschte mir sehr, dass wir in einer Gesellschaft leben könnten, in der auch dies wieder akzeptiert wäre.
„Ich habe die Freiheit, Dinge zu tun“
Wie haben sich berufliche Schwerpunkte entwickelt?
Meine Coachingausbildung und die ersten Jahre waren stark auf Unternehmen, also die Beratung von Führungskräften ausgerichtet. Dann kamen Privatkunden. Ein weiterer Schwerpunkt ergab sich aus der Arbeit in der Arztpraxis meines Mannes, wo ich feststellte, dass Themen wie Mitarbeiterführung oder Patientenzufriedenheit für Ärzte Fremdworte waren. Allerdings hörte ich sehr oft: Bei mir ist das kein Thema, aber ich kenne fünf Kollegen, die solch eine Beratung nötig hätten. Bei Kliniken war das anders. Und so war ich in ganz Deutschland auf Seminaren unterwegs, bis ich mir irgendwann sagte: Das war`s.
War das auch der Moment, in dem Du Das Thema Ruhestandcoaching für Dich entdeckt hast.
Ja, genau. Ich hatte zuvor schon begonnen, Seminare abzugeben. Aber was sollte ich ohne diese Termine und Begegnungen machen? Ich bin dann in den Chor gegangen, war im Fotoclub, ging tanzen. Der andere Grund war: Ich hatte mir vorgenommen, dass ich alles, was ich weiß, noch irgendwie unter die Leute bringen will anstatt es im Keller zu verschließen. Und so fing ich vor zehn Jahren mit dem Bloggen an.
Mit 62 Jahren – Respekt!
Zunächst entstand der Blog selbstbewusst-werden, weil der sich als Dach für alle meine Coachingthemen anbot. Der 50plus-Blog ist dagegen aus purem Trotz entstanden, weil es mich so genervt hat, wie Menschen ab einem gewissen Alter in den Medien dargestellt wurden. Der Tenor war: Die sind alle dement. Ich dachte: Das kann’s nicht sein.
Und der Blog hat am meisten Leser derzeit, hast Du mir mal erzählt.
Ja, Themen wie mit „Mit 50 Geburtstag feiern“, „Alleine in Urlaub fahren“ oder der Ruhestand sind sehr beliebt. Ich habe auch schon geschrieben, wie Unternehmer ihren Ruhestand vorbereiten.
„Viel reisen und ein bisschen Italienisch lernen ist zu wenig“
Du selbst bezeichnest Dich ja nicht als Ruheständlerin, sondern als „Freifrau“. Was ist der Unterschied?
Der Begriff stammt von einer österreichischen Freundin und meint: Ich habe die Freiheit, Dinge zu tun. Mit Ruhestand verbindet man einen harten Schnitt, irgendein Ende, als Freifrau kann ich in alle Richtungen schauen und alles Mögliche machen. Mein Partner sagt immer so schön: Wir sind Zeit-Millionäre.
Wofür brauchen Menschen in dieser Lebensphase Beratung?
Vor allem Männer leben eher eindimensional, ziehen ihren Selbstwert und auch ihren Bekanntenkreis primär aus dem Job, während Frauen über einen Blumenstrauß an Kontakten und Aktivitäten verfügen. Umso wichtiger wäre es, sich frühzeitig mit dem Abschied aus dem Beruf auseinanderzusetzen. Ich kann mir keinen Freundeskreis aufbauen, wenn ich in Rente komme. Ich sollte mich stattdessen früher, am besten drei Jahre vorher, darauf besinnen, was mir Freude macht, welche Leute ich kenne, was ich immer schon mal machen wollte. Viel reisen und ein bisschen Italienisch lernen ist auf Dauer zu wenig. Der Mensch braucht einen Sinn im Leben, und den muss man früher suchen. Gerade viele Männer haben aber den Zugang zu diesen Themen schon verloren. Da muss man lange graben und dann einiges ausprobieren.
Dazu gehört auch die Frage, was man weitergeben möchte, über die wir auch im Kontext meiner Arbeit gesprochen haben.
Ich habe zum Beispiel den Familienstammbaum aufgefrischt und anschließend für die Enkel Porträts von insgesamt zehn Familienangehörigen geschrieben. Und für meine Kinder habe ich ein Fotobuch gemacht: „Glückliche Zeiten“ heißt es, und hier habe ich dokumentiert, dass mein Mann und ich in den 30 Jahren vor der Trennung ein Paar waren und dass unsere Kinder Kinder der Liebe sind – und nicht von Scheidungseltern.
Einige Menschen erleben die Zeit nach dem Beruf dagegen als Verlust: Verlust an Sinn, Verlust an Bedeutung, Verlust an Kontakt mit der Welt. Fast wie ein vorweggenommer Abschied vom Leben …
Einsamkeit ist ein großes Thema. Ich plane dazu einen Kurs, und bei meinen Recherchen ist mir aufgefallen, wie viel gejammert wird, wie viele in dieser Situation verhaftet sind. Immer geht es nur darum, was die andern tun könnten oder sollten – aber man muss auch wollen! Sicher, manchmal brauchen Menschen zunächst eine Therapie, ehe sie das umsetzen können, aber ich freue mich über jeden Kunden, dem ich bei der Suche helfen kann.
Wie gehst Du dabei vor?
Ein Coach fragt immer mit W-Fragen. Er sagt nicht: Jetzt nicht, gibt`s nicht, sondern fragt: Was muss man tun? Wen kennt man? Wie geht‘s? Ich erinnere mich an einen Klienten, dessen Jugendtraum die Archäologie war. „Aber das geht ja jetzt nicht mehr“, sagte er zu mir. Ich habe ihn überredet, mit mir danach zu suchen, wo es so etwas gibt. Und auf der Schwäbischen Alb gab es eine Gruppe, die Ausgrabungen macht, und er durfte mitmachen. Dafür ist es nie zu spät. Es gibt ein tolles Fotobuch von Paula Lanfranconi und Ursula Markus, das lauter Porträts von Menschen zwischen 75 und 100 Jahren enthält, die ihr Ding gefunden haben. Da steht da zum Beispiel eine 100-Jährige mit Gummistiefeln und Gießkanne in ihrem Garten und sagt: „Wenn ich das nächstes Jahr noch machen kann, ist es toll.“ Daraufhin habe ich angefangen, Zeitungsartikel solcher Beispiele zu sammeln – und recht viele gefunden, die im Alter noch sehr aktiv sind. Man darf sich nicht freiwillig klein machen und aufhören.
„Meine Energie entsteht im Tun“
Warum eigentlich nicht?
Na, weil man dann schrumpft! Meine älteste Freundin, die 20 Jahre älter war als ich, ist vor einigen Jahren gestorben. Ich hatte sie immer bewundert, für ihre Aktivität, ihren Stil, und dann zog sie eines Tag es um. Sie beschloss daraufhin, ihre Sachen zu ordnen, und war nur noch damit beschäftigt. Wenn Du etwas aufhörst, ist die Gefahr groß, dass es wegbleibt.
Ist das die Energie, die Dich antreibt? Du hast fünf Bücher geschrieben, betreibst drei Webseiten, zwei Blogs und hast auf Deinem eigenen YouTube-Kanal 40 Videos veröffentlicht.
Jedenfalls entsteht meine Energie im Tun. Je weniger ich tue, umso schlaffer werde ich, je mehr ich tue, desto mehr Power habe ich. Und ich habe noch so viele Ideen, dass ich nur hoffe, dass ich lange genug leben kann.
Aber gibt es nicht auch Menschen, die einfach lebenssatt sind und sich bewusst zurückziehen? Bei Deiner Freundin klingt es für mich zumindest so, als hätte sie vorher einen großen Schluck vom Leben genommen.
Kann sein, dass ich mit 85 auch so denke. Sie ist sehr spannend gestorben. Zum Schluss war sie in einem Seniorenstift, und dort verliebte sie sich noch einmal. Am Nachmittag vor ihrem Tod war sie mit ihrem Freund tanzen …
Ein Tumor namens Hermann
Dir kam vor einigen Jahren der Tod auch bedrohlich nahe. Das zu sagen, ist nicht indiskret, weil Du auch über Deine Brustkrebserkrankung ein Buch geschrieben hast. Darin stellst Du „positive Bewältigungsstrategien“ vor. Was heißt das?
Anders als man denken könnte, habe ich nicht nur die positive Seite angeschaut, sondern wie immer im Leben auch den Worst Case: Was kann schlimmstenfalls passieren? Was kann ich dann tun? Kann ich verhindern, dass es so schlimm wird? Ich betrachte also auch den Fall, dass ich nicht mehr sehr lange zu leben habe. Also habe ich die Formalia erledigt: Verfügungen, Passwörter, Bestimmungen zu meiner Beerdigung. Mit dieser Mappe war das erledigt. Zum Worst Case zählte auch der Gedanke, dass sich womöglich auch Freunde von mir distanzieren, weil sie mit meiner Erkrankung nicht umgehen können oder wollen. Das letzte Stück Weg wird bestimmt nicht witzig, dachte ich mir. Auf der anderen Seite konnte ich mich damit stärken, alle gute Nachrichten und Hoffnungszeichen zu notieren: Sätze von Ärzten oder Diagnoseergebnisse zum Beispiel. Und auch hier fragte ich mich, was ich beitragen kann, etwa über eine gesunde Ernährung.
Und Du hast Deinem Tumor einen Namen geben…
Ja, Hermann! (lacht) Das war eine Eingebung, der Name war plötzlich da.
Und wie es im Untertitel Deines Buchs heißt: Irgendwann erhielt Hermann die Räumungsklage.
Dieses Bild vom lästigen Mieter war mein Grundgedanke. Als ich die Chemotherapien verabreicht bekam, dachte ich: „Hermann, jetzt kriegste wieder ‚ne Breitseite!“ Als man im MRT Sprengsel fand, sagte ich mir: „Oh Gott, der hat auch noch Familiennachzug bestellt – jetzt reicht`s aber!“ Und jetzt sage ich mir: Ich weiß, dass Brustkrebs zurückkommen kann, aber ich habe beschlossen, mir davor keinen Kopf mehr zu machen. Und wenn es soweit wäre, wäre es auch nicht das Ende der Fahnenstange – aber wer sagt, dass er überhaupt wiederkommt?
„Was jetzt kommt, ist Zugabe“
Hat diese Zeit Deine Haltung zum Leben verändert? Du wirkst auf mich nicht so, als hättest Du Nachholbedarf – weder an Lebenslust noch an Selbstreflektiertheit.
Es ist doch schade, wenn erst eine Krankheit dazu führt, dass man sein Leben ändert, oder? Es gibt da diesen schönen Spruch: „Geh Du vor, sagte die Seele zum Körper, auf mich hört er nicht. Ich werde krank werden, sagte der Körper zur Seele, dann hört er auf Dich.“ Was mich angeht, kann ich nicht sagen, dass sich durch die Krankheit viel verändert hat. Bei meinem Partner, der ebenfalls Krebs hatte, war das ganz anders. Er ist Musiker uns sagt seitdem: „Alles, was jetzt kommt, ist Zugabe.“
Und als Musiker weiß er, was das heißt.
Dass man jetzt das spielen kann, was man will! Und Zugabe gibt es nur, wenn es einem vorher gefallen hat.
Herzlichen Dank, liebe Ursula für dieses schöne Gespräch! Wer jetzt neugierig geworden ist und mehr über Ursula Kraemer wissen möchte: www.navigo-coaching.de
Wer sich in den Ruhestand begleiten lassen möchte oder ein anderes Coachingthema hat, möge mir gerne schreiben. Ihre Nachricht unter Kontakt erreicht mich auf alle Fälle.